Chamuyo

Quelle: http://recopado.otrosbuenosaires.com

Zu den herausragenden Eigenschaften der Menschen in meiner Wahlheimat gehört der chamuyo. Das bedeutet in etwa bullshit, das dazugehörige Verb chamuyar kann man mit „lügen“ übersetzen. Mit chamuyo ist aber auch die Angewohnheit gemeint, erfundene Geschichten so zu erzählen, als handle es sich um die pure Wahrheit. Die Fähigkeit, aus dem Stehgreif urbane Mythen zu erfinden und trocken zu erzählen, scheint den als porteños bekannten Bewohnern der Hauptstadt in die Wiege gelegt worden zu sein. Dem chamuyo liegt eine relativistische Einstellung zugrunde, nach der es wichtiger ist, dass sich ein Sachverhalt als schöne Geschichte erzählen lässt, als dass er, streng genommen, der Wahrheit entspricht. Objektive Wahrheit existiert sowieso nicht, warum nicht eine eigene, schönere Wahrheit kreieren? Das verrät etwas über die hohe Wertschätzung der Literatur in Argentinien, und macht den Alltag interessanter.

Der chamuyo hat aber auch Nachteile. Ich wende mich in Buenos Aires z.B. schon lange nicht mehr an Fremde, wenn ich mich verlaufen habe, da ich festgestellt habe, dass Argentinier nie zugeben, die Adresse, die ich suche, nicht zu kennen. Stattdessen erfinden sie irgendetwas und ich verlaufe mich nur noch mehr. Auch meine journalistische Arbeit macht es nicht gerade leichter, dass man hier jede Behauptung mit mehr als nur einer Prise Salz nehmen muss. Die Aussage eines Mitglieds der maradonianischen Kirche, Gary Lineker und Ronaldinho gehörten zur internationalen Gemeinde der Maradonianer, die ich kürzlich in einem Artikel verwendet habe, ist ein eher harmloses Beispiel von chamuyo, da sie sich ohne längere Überlegung als Schwachsinn abtun lässt. Die Behauptung eines Freundes eines Freundes, hingegen, er kenne in der nördlichen Provinz Entre Ríos eine Gemeinschaft von Iranern, die in den 1940er Jahren emigriert und heute glühende Befürworter der Islamischen Republik seien, ist schon gewiefter. Der Einfluss von Borges ist unverkennbar.

Meine Skepsis war also vielleicht verständlich, als mir ein Freund erzählte, der in Argentinien gefeierte Día del Amigo (Freundestag) sei aus Anlass der ersten Mondlandung 1969 eingeführt worden. Die Mondlandung und die unsterblichen Worte von Neil Armstrong waren zweifellos sehr bedeutend. Für die Raumfahrt, die Wissenschaft, die Dynamik des Kalten Krieges. Aber was hat das mit der Freundschaft zu tun? Ich weiß es nicht, aber Wikipedia gibt meinem Freund Recht. Der Día del Amigo wird in Argentinien, Brasilien und Uruguay jedes Jahr am 20. Juli, dem Jahrestag der Ankunft der Apollo XI auf dem Mond, gefeiert, weil es einem gewissen Dr. Enrique Ernesto Febbraro, seines Zeichens Professor für Psychologie, Philosophie und Geschichte, sowie Musiker und Zahnarzt, irgendwie passend erschien. Der Día del Amigo ist nur einer von einer Reihe Hommage-Tagen, die größtenteils nicht gesetzliche Feiertage sind, aber von den Geschäften des Landes zum Anlass für Sonderangebote, Geschenktipps und andere Werbeaktionen genommen werden. Als da wären (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): der Kindertag, der Schülertag, der Lehrertag, der Tag der Nationalflagge, der Tag der Nationalhymne, der Tag des Nationalwappens, der Tag der Rasse (Jahrestag der Ankunft von Kolumbus in Amerika, seit 2007 in Argentinien offiziell Tag der kulturellen Vielfalt Amerikas), die Woche der Süßigkeiten, sowie natürlich Muttertag und Vatertag. Valentinstag und Halloween haben sich hier (noch) nicht durchgesetzt, vielleicht aufgrund der Fülle an bereits vorhandenen Feiertagen.

Was macht man am Día del Amigo? Man wünscht sich per SMS einen schönen Freundestag, abends trifft man sich auf ein paar Bier, auch wenn der Tag, wie in diesem Jahr, auf einen Dienstag fällt. Wichtig ist, zu erkennen zu geben, dass man das Ganze mit einer Portion Ironie nimmt. Der Feiertag sei ja nur eine Erfindung der yanquis (Yankees – Amis), damit man sich Geschenke kauft. Die Kneipen jedenfalls freuen sich, und es bietet sich die Gelegenheit zu einem bisschen chamuyo, was übrigens auch ein Synonym für die Flirtkunst ist.

Matrimonio gay


Argentinien hat als erstes Land Lateinamerikas und zehntes der Welt die Zivilehe zweier Menschen desselben Geschlechts gesetzlich erlaubt. Nachdem das Unterhaus des Parlaments, die Abgeordnetenkammer, ein entsprechendes Gesetz bereits am 5. Mai verabschiedet hatte, stimmte heute Morgen auch im Senat eine knappe Mehrheit für die Legalisierung der homosexuellen Ehe.

Nach knapp 15 Stunden und 47 Wortmeldungen, in denen unter anderen Tolstoi, Oscar Wilde, Shakespeare, Friedrich Engels und Immanuel Kant zitiert worden waren, endete die Debatte um vier Uhr morgens mit einem leidenschaftlichen Schlusswort des Fraktionschefs der Regierungspartei Frente para la Victoria (Front für den Sieg), Miguel Pichetto. Er bezeichnete die Haltung der katholischen Kirche als „wenig intelligent“ und lieferte sich ein Schreiduell mit der weinenden oppositionellen Senatorin Liliana Negre de Alonso, deren „Einspruch aus Gewissensgründen“ gegen die gleichgeschlechtliche Ehe er mit dem Nationalsozialismus verglich. Als sich die Gemüter einigermaßen beruhigt hatten, folgte die Abstimmung. 33 Senatoren stimmten für das Gesetz, 27 dagegen.

Vor dem Kongressgebäude fielen sich mehrere hundert Menschen in die Arme, die bei Temperaturen um drei Grad stundenlang ausgeharrt hatten. Die Präsidentin des Argentinischen Verbands der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen FALGBT, María Rachid, leitete den Sprechchor „¡Si se puede!“ ein, die spanische Version des Obama-Slogans „Yes, we can!“ Ein junger Mann, dem das Erstaunen ins Gesicht geschrieben stand, sagte, „Zum ersten Mal habe ich dieselben Rechte wie alle anderen“.

Am Dienstagabend hatten an gleicher Stelle mehr als 50.000 Menschen ihre Ablehnung der Gesetzesänderung zum Ausdruck gebracht. Die sowohl von der katholischen als auch der evangelischen Kirche organisierte Demonstration stand unter dem Motto „Die Kinder haben ein Recht auf eine Mama und einen Papa“. Die Schüler der katholischen Schulen der Hauptstadt hatten frei bekommen, um an der Kundgebung teilzunehmen. „Liebe Senatoren, bitte zerstört nicht die Sozialordnung Argentiniens“ hieß es aus Lautsprechern auf der für die Demonstration aufgebauten Bühne, während auf einer großen Leinwand mit dramatischer Musik unterlegte patriotische Symbole gezeigt wurden. In einer zu begeistertem Beifall von einer Moderatorin vorgelesenen Botschaft sagte Kardinal Jorge Bergoglio, der Erzbischof von Buenos Aires, „Wir wollen über niemanden urteilen, der anders denkt oder anders fühlt, aber man kann nicht gleichsetzen was verschieden ist. Die Verabschiedung des Gesetzes würde einen schlimmen anthropologischen Rückschritt bedeuten“.

In ihren Argumenten gegen das Gesetz griffen einige Senatoren diese Worte auf und erklärten, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften zum Schutz der Institution Familie nicht als Ehe bezeichnet werden dürften. Viele gaben an, eine „Zivilunion“ zu unterstützen, wie es sie bereits in einigen Provinzen gibt. Diese beinhaltet im Gegensatz zur Ehe unter anderem nicht das Recht auf Adoption und das Recht der Partner, von einander zu erben. Die Zivilunion stand in der Senatssitzung nicht zur Debatte.

Cristina Kirchner, die Präsidentin Argentiniens, und ihr Ehemann und Amtsvorgänger Néstor Kirchner unterstützten die Gesetzesänderung. Die Präsidentin erklärte während eines Staatsbesuchs in China, die Worte des Kardinals Bergoglio, der den Einfluss des Teufels in der Gesetzesinitiative ausgemacht haben wollte, erinnerten sie an die Kreuzzüge. Die Kirchners hatten sich jedoch nicht für das Gesetzesprojekt eingesetzt solange ihre Partei Frente para la Victoria (Front für den Sieg) noch über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügte, die sie im vergangenen März einbüßte. Deshalb vermutete unter anderen der Senator Luis Juez politisches Kalkül hinter deren plötzlichem Interesse am Thema. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass Néstor Kirchner im nächsten Jahr erneut für die Präsidentschaft kandidieren wird. Er wird dann die Stimmen der weltoffenen Bürger der Metropole Buenos Aires gut gebrauchen können.

Der Stein der Legalisierung wurde im vergangenen November ins Rollen gebracht, als eine Richterin an einem Verwaltungsgericht von Buenos Aires der Verfassungsbeschwerde von José María Di Bello und Alex Freyre stattgab. Das Standesamt hatte ihnen die Trauung verweigert. Ihre erfolgreiche Klage basierte auf der von der Verfassung garantierten Gleichheit aller Bürger. Es folgte ein juristischer Machtkampf, dank eines Dekretes der Gouverneurin der Provinz Tierra del Fuego, Fabiana Ríos, konnten Freyre und Di Bello schließlich als erstes gleichgeschlechtliches Paar Lateinamerikas am 28. Dezember heiraten. Mehr als hundert weitere homosexuelle Paare zogen daraufhin ebenfalls vor die Gerichte, acht von ihnen haben mittlerweile geheiratet.

„Wir entscheiden hier nicht darüber, ob Homosexuelle heiraten können, denn sie tun es bereits“, argumentierte daher der Senator Oscar Castillo. „Wir entscheiden, wie sie es tun: ob sie einen Hochzeitstermin festlegen und ihre Freunde einladen können, oder ob sie den Ausgang einer Verfassungsbeschwerde abwarten müssen“. Es dürften in naher Zukunft eine Menge Hochzeitsfeiern in Argentinien stattfinden.

„Wir fühlen uns wie der Krake Paul, denn wir haben diesen Moment vorhergesehen“, sagte ein jubelnder Alex Freyre wenige Minuten nach der Abstimmung. „Morgen fliegen wir endlich in die Flitterwochen“.

D10S

„Wer nicht hüpft, der ist Engländer“. Der Sprechchor, der in Argentinien bei jedem Fußballspiel mindestens einmal aus auf und ab wippenden Kehlen durchs Stadion hallt, geht der Menschenschar auf dem Platz der Republik in Buenos Aires besonders schadenfroh über die Lippen. Der Erzfeind, der Argentinien 1982 im Krieg um die Falkland-Inseln eine schlimme Niederlage zufügte, wofür sich Diego Maradona vier Jahre später auf dem Weg zum Weltmeistertitel mit zwei historischen Toren rächte, ist in Südafrika gegen Deutschland mit 4:1 unter die Räder gekommen. Nun hat Argentinien die Möglichkeit, sich für die letzte Niederlage bei einer Fußballweltmeisterschaft zu revanchieren, wenn es am Samstag, wie schon vor vier Jahren, im Viertelfinale gegen die Deutschen geht. Ein harter Brocken, meinen die meisten Anhänger der argentinischen Mannschaft, nun wird aber erst einmal der 3:1 Sieg gegen Mexiko zu tausenden mit Trommeln, Gesängen und Tänzen vor dem Merkmal der Hauptstadt, dem Obelisken, auf der Avenida 9 de Julio, der mit 20 Spuren breitesten Straße der Welt, gefeiert. Mittendrin reckt Iván Rodríguez eine Nachbildung des WM-Pokals gen Himmel.

 

Rodríguez ist mit seinen erst 20 Jahren kein Unbekannter in der Fußballfangemeinde. Sein dunkelblaues Trikot ziert über der rechten Brust die Aufschrift „D10S“, eine Anspielung auf Maradonas Trikotnummer und ein Hinweis auf den Status des ehemaligen Nationalspielers und aktuellen Nationaltrainers für Rodríguez: Dios bedeutet Gott. Vor zwei Jahren lernte Rodríguez in einer Fernsehsendung namens „Club de Fans“ Maradona kennen und versuchte ihm unter Tränen und Schluchzen zu sagen, wie viel er ihm bedeutete. Daraufhin meldeten sich Hernán Amez und Alejandro Verón, Gründer der „Iglesia Maradoniana“, der Maradonianischen Kirche, bei Rodríguez. Sie luden ihn zur maradonianischen Weihnachtsfeier am 30. Oktober, Maradonas Geburtstag, ein. Dort lernte Rodríguez die Grundsätze und Rituale dieser Religion kennen, deren Anhänger die Sache durchaus ernst nehmen. Es gibt eine Bibel (Maradonas Autobiografie), zehn Gebote (Nummer eins: „Der Ball darf nicht befleckt werden“, ein Zitat Maradonas), Gebete wie das „Diego Unser“ und Rituale wie die Taufe, bei der das legendäre Tor nachgestellt wird, das Maradona bei der WM 1986 gegen England mit der Hand erzielte, und das Maradona der „Hand Gottes“ zuschrieb. Wer diesen Treffer nachmacht und sich den zweiten Vornamen Diego zulegt, darf beitreten. Laut Rodríguez gibt es mittlerweile 100.000 Mitglieder weltweit, darunter berühmte Fußballer wie der Brasilianer Ronaldinho und Gary Lineker, Schütze des englischen Tores bei der 2:1 Niederlage 1986 gegen Argentinien.

Zum verabredeten Treffpunkt, eine Pizzeria im Zentrum von Buenos Aires, ist nur etwa ein Dutzend maradonianische Jünger gekommen, um das Spiel der von ihrem D10S trainierten Mannschaft gegen Mexiko zu sehen. Rodríguez schiebt die niedrige Zahl auf die Gemütlichkeit seiner Glaubensbrüder, die bei kaltem Regenwetter lieber zuhause bleiben und das Spiel auf dem Sofa gucken würden. Als Verantwortlicher für Aktivitäten in der Hauptstadt der Kirche, deren Gründer in der Stadt Rosario leben, hat Rodríguez das Treffen organisiert. Auch ohne große maradonianische Fraktion ist der Laden voll von Hellblau-Weiß gekleideten Menschen. Die Maradonianer sitzen in der ersten Reihe, neben die Leinwand hängt Rodríguez eine argentinische Flagge, auf der das Konterfei Maradonas zweimal abgebildet ist, sowie der Spruch „Que la sigan chupando“ steht. Es handelt sich dabei um einen Ausspruch Maradonas bei einer Pressekonferenz nach dem entscheidenden WM-Qualifikationsspiel in Uruguay, bei dem sich die Argentinier im vergangenen Oktober mit Ach und Krach als fünftplazierte Mannschaft Südamerikas für das Turnier in Südafrika qualifizierten. Nationaltrainer Maradona hatte sich schon lange von den heimischen Medien ungerecht behandelt gefühlt und ließ bei dieser Pressekonferenz, wie so oft, seiner Wut freien Lauf. Der Spruch auf der Fahne von Rodríguez ist eine Aufforderung zur Fellatio von Maradona an die Journalisten.

„Viele finden ihn ordinär“, sagt Rodríguez, „aber ich bin froh, einen Gott zu haben, der direkt und offen ist und sagt, was er denkt“. Mit dem Wort Gott meine er, dass Maradona der Gott des Fußballs und auf dem Platz omnipotent sei. Man wolle sich nicht mit der katholischen Kirche anlegen. Seine Gefühle für Maradona seien unbeschreiblich. „Ich liebe Diego und trete bis zum Tod für ihn ein“, versucht Rodríguez es dann doch.“ Ich verdanke ihm die Geschichte meines Vaters, wie er nach Diegos Toren gegen England weinend durch die Straßen lief, und ich verdanke es ihm, dass man uns Argentinier im Ausland respektiert“.

Den drei argentinischen Toren gegen Mexiko folgt jeweils ein ohrenbetäubendes „Goooool!“ der Fans in der Pizzeria. Rodríguez küsst den WM-Pokal aus Plastik. Dass das erste Tor nicht regelkonform zustande kommt, stört, wie beim Tor der Hand Gottes, niemanden. Gegen Ende des Spiels kommt ein Kamerateam eines Fernsehsenders und filmt Rodríguez, der sich, ganz Medienprofi, locker gibt und einfach weiter auf die Leinwand schaut. Argentinien gewinnt locker, alle sind glücklich und strömen ein paar Blocks weiter zum Obelisken. Langsam richtet sich die Aufmerksamkeit auf den nächsten Gegner. Rodríguez und seine Glaubensbrüder von der Maradonianischen Kirche hoffen, am Samstag nach dem Spiel wieder Anlass zu haben, sich am Obelisken mit dem Rest der Stadt zu einer Feier zu treffen. Sie stimmen sich schon einmal darauf ein und singen „wer nicht hüpft, der ist ein Deutscher“.

Pablo





In the interest of full disclosure: Ich habe vor acht Jahren den Zivildienst im Kinderheim María Luisa geleistet. Den folgenden Text habe ich geschrieben, ohne mich um Neutralität zu bemühen:

Als Pablo Salinas am elften November des vergangenen Jahres wie gewohnt früh morgens zur Arbeit im Kinderheim María Luisa in einem Vorort von Buenos Aires namens Villa Ballester ging, wusste er noch nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Er ahnte allerdings Böses, denn zwei Tage zuvor war ihm etwas passiert, das er sich nicht erklären konnte: Im Vorbeigehen hatten ihm zwei Mädchen im Heim „alter Perverser“ an den Kopf geworfen. So etwas war ihm noch nie passiert. Seitdem hatte er schlecht geschlafen.

Pablo war seit knapp zehn Jahren im Heim. Er war so etwas wie das Mädchen für alles. Er war der Fahrer, sowohl der Kinder von und zur Schule als auch der Einkäufe und Sachspenden für das Heim. Außerdem war er es, der sich kümmerte, wenn etwas repariert werden musste. Er wohnte unter der Woche in einem winzigen Zimmer in einem Studentenwohnheim keine hundert Meter vom Kinderheim entfernt; für die Kinder war er eine Autoritäts- und Vertrauensperson, er kannte sie beinahe besser als seine eigenen fünf Kinder. Die wohnen mit seiner Frau eine Autostunde entfernt in Morón, einem Vorort der argentinischen Hauptstadt, in dessen kleinen Häusern entlang der staubigen, unbefestigten Straßen Familien der Arbeiterklasse leben. Salinas Frau arbeitet als Friseurin, die ältere Tochter in einem Kiosk. Der älteste Sohn ist vor kurzem mit Frau und neugeborenem Kind zurück ins Elternhaus gezogen. Pablo verdiente im Kinderheim mehr als 3000 Peso (etwa 600 Euro). Das war kein Vermögen, aber zusammen mit den kleinen Einkommen seiner Familie und seiner eigenen zusätzlichen Arbeit am Wochenende als Schreiner konnte er immer seine Familie ernähren. Er war außerdem krankenversichert. Für den Job nahm er es in Kauf, seine Familie nur am Wochenende zu sehen.

Am elften November rief der Direktor des Kinderheims, Pedro Kipp, Pablo in sein Büro. Kipp ist seit 2005 im Kinderheim, zuvor arbeitete er als Lehrer an einer deutschen Schule. Die Vorgabe, dass der Heimleiter Deutsch sprechen muss, hatte den Kreis der Kandidaten für den Posten stark eingegrenzt. Die Anzahl der Argentinier deutscher Abstammung, die noch Deutsch sprechen, sinkt schon seit langem. Aber das Maria Luisen Kinderheim versteht sich als deutsche Einrichtung. Es wurde im 19. Jahrhundert von einer Österreicherin gegründet, seit Jahren betreuen deutsche Freiwillige die Kinder, es besteht eine Kooperation mit der deutschen Schule Instituto Ballester sowie mit dem deutschen Krankenhaus von Buenos Aires. Das Heim lebt hauptsächlich von Geldspenden aus Deutschland und Sachspenden von deutschen Firmen in Argentinien, wie Siemens, BASF oder Lufthansa. Aus den leitenden Positionen dieser Firmen rekrutiert sich zudem ein Großteil des Vorstands des Kinderheims, dessen Mitglieder allesamt Deutsch-Argentinier sind. Der Präsident des Vorstands arbeitet beim großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG, die Vizepräsidentin ist bei der Friedrich-Naumann-Stiftung tätig. Die Kinder, im Alter zwischen vier und achtzehn Jahren, kommen größtenteils aus armen Familien aus den Randgebieten der Hauptstadt, die es sich nicht leisten können, für ihre Kinder zu sorgen.

Es wurde nach seinem Dienstantritt schnell klar, dass Pedro Kipp eine mehr als schlechte Wahl für die Position des Heimleiters war. Er stellte sich als jähzornig und unkommunikativ heraus. Er beschäftigt sich nicht mit den Kindern, schreit sie und das Heimpersonal an. Wegen seines Übergewichts geht er nie die Treppe zu den Schlafzimmern der Kinder hoch. Er fährt meistens schon mittags nach Hause, obwohl es sich bei seinem Job um eine Vollzeitstelle handelt. Wenn sich ein Heimkind nach seinem Empfinden nicht gut genug benimmt, schmeißt Kipp es kurzerhand raus. Oft „überredet“ er die Eltern dazu, ihre Kinder selbst aus dem Heim zu nehmen. Offenbar macht er sich dabei manchmal Details aus dem Privatleben der Familien, die er von den Kindern erfahren hat, zunutze. Wenn die Familien ihre Kinder freiwillig aus dem Heim nehmen, muss sich Kipp nicht dem Heimvorstand gegenüber rechtfertigen. Die Kinder, die oft jahrelang im Heim gelebt haben, bekommen, indem sie ihrem gewohnten Umfeld entrissen werden, einen zusätzlichen psychischen Knacks. Einige nehmen Drogen oder trinken Alkohol. Die Schule brechen sie meist ab, viele bekommen sehr früh Kinder.

Bei Pablo Salinas lief es ähnlich wie mit den Eltern der Heimkinder. Pedro Kipp ließ ihn in sein Büro kommen, dort saßen bereits das Vorstandsmitglied Claudio Matschke und eine Psychologin, die im Heim mit den Kindern arbeitet. Kipp konfrontierte Pablo mit einer schlimmen Anschuldigung: Ein 13jähriges Heimmädchen hatte behauptet, Pablo habe sie verbal sexuell belästigt. Die Angelegenheit sei ernst, eine Anzeige liege vor. Das sei ein großes Problem für das Heim, erklärte Kipp. Pablo, erschrocken und panisch, dachte in dem Moment an die Mädchen, die ihn im Vorbeigehen beschimpft hatten. Es ging ihm durch den Kopf, dass nun alle Kinder denken mussten, er sei ein schlechter Mensch. „Unter diesen Umständen kann ich hier nicht weiter machen“, entfuhr es ihm. Bevor er wusste, wie ihm geschah, gratulierte ihm Kipp zu seiner Entscheidung, mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Matschke nahm ihn mit zur Post, wo man ein Formular ausfüllen muss, wenn man einen Job kündigen will. Pablo wurde sich langsam bewusst, um was für eine gewichtige Entscheidung es ging. „Ich kann das nicht ausfüllen“, sagte er. Also machte es Matschke für ihn. Pablo brauchte nur zu unterschreiben. Das tat er auch, und brachte sich damit in unfassbar große Schwierigkeiten. Nach argentinischem Gesetz muss jedem Angestellten, dem gekündigt wird ohne dass ein Vertragsbruch vorliegt, eine Abfindung nach einer Formel ausgezahlt werden, die sich nach der Anzahl der Dienstjahre richtet. Pablo hätte im Falle einer Kündigung seitens des Heims eine Abfindung von etwa 6000 Euro zugestanden. Durch seine eigene Kündigung hat er sich um diese für ihn ungeheuer große Summe Geld gebracht.

Pablo kam 1960 im Norden Argentiniens zur Welt. Seine Eltern, bolivianische Einwanderer, hatten wenig Geld, sein Vater verließ die Familie zudem als Pablo noch sehr klein war. Mit Anfang zwanzig, nach einer früh abgebrochenen Schullaufbahn, geleistetem Militärdienst und einigen Jahren Arbeit als Schreiner, zog es ihn, wie so viele, in das riesige Ballungszentrum um die Hauptstadt. Mit harter Arbeit baute er eine bescheidene aber stabile Existenz auf. Er gründete eine Familie. Einige Jahre lang arbeitete er als Fahrer für die deutsche Botschaft in Buenos Aires, wurde dann dem Kinderheim empfohlen. Fast zehn Jahre arbeitete er dort. Er war ein zuverlässiger Mitarbeiter, der sich nie krank meldete oder zu spät kam. Für die Kinder war er Respektperson und Kumpel zugleich. Auch für die deutschen Zivildienstleistenden und Freiwilligen, die jährlich wechselnd im Kinderheim arbeiten und im Studentenwohnheim leben, in dem auch Pablo unter der Woche wohnte, war er immer eine große Hilfe und ein guter Freund. Oft kochte er für sie nach einem langen Arbeitstag im Heim. Wenn gegrillt wurde, war er immer der Grillmeister.

Kein Mensch im Kinder- wie im Studentenheim glaubt, dass die Anschuldigung der Belästigung gegen Pablo stimmt. Kinder wie ehemalige Kollegen vermissen ihn. Im Kinderheim erzählt man sich, dass das Mädchen die Sache erfunden hat, weil sie nicht mehr im Heim leben wollte. Die Angestellten des Heims trauen sich nicht, sich für Pablo einzusetzen oder andere Probleme im Heim anzusprechen. Sie haben Angst vor Pedro Kipp, der das Heim willkürlich kontrolliert. Wie er wissen sie, dass der Vorstand ihn blind unterstützt und nie Fragen stellt. Keiner aus dem Vorstand besucht jemals das Heim unangekündigt oder gibt den Angestellten die Gelegenheit, sich frei zu äußern, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Die meisten Vorstandsmitglieder lassen sich höchstens bei der einmal im Jahr stattfindenden „Schlachtplatte“ überhaupt im Heim blicken. Sie wissen nichts über den Heimalltag, und es scheint sie auch nicht zu interessieren.

Das Mädchen hat ihr vermeintliches Ziel erreicht, ihre Eltern haben sie aus dem Heim genommen. Der Leidtragende war Pablo. Kipp kam die Gelegenheit, Pablo loszuwerden, gerade recht. Es muss ihm unangenehm gewesen sein, dass Pablo jederzeit unschmeichelhafte Dinge über ihn hätte erzählen können. Mittlerweile hat Pablo keinen Grund mehr, still zu bleiben, nur hört ihm niemand zu wenn er zum Beispiel erzählt, dass Sachspenden und Fleischeinkäufe für das Heim immer zuerst zu Kipp nach Hause gefahren worden und später unvollständig im Heim angekommen seien.

Im Laufe der Jahre hat Pablo ein paar gesundheitliche Probleme bekommen. Unter anderem leidet er unter Durchblutungsstörungen aufgrund eines eingeklemmten Nervs. Da er nicht mehr im Kinderheim arbeitet, hat er keine Krankenversicherung mehr und kann sich die Behandlung nicht mehr leisten. Er muss außerdem noch anderthalb Jahre lang einen Bankkredit zurückzahlen. Dazu ist er nicht mehr in der Lage. Er hat kein Auto, mit dem er seine handgefertigten Möbel zu Kunden fahren könnte, oder das er nutzen könnte, um als Taxifahrer zu arbeiten. Mit seinen bald 50 Jahren und ohne formelle Bildung bekommt er keine andere Arbeit. Zumal das Heim ihm nicht einmal ein Arbeitszeugnis ausgestellt hat.

Alles deutet darauf hin, dass Pablo sich in Wirklichkeit nichts zu schulden hat kommen lassen. Die Polizei weiß jedenfalls nichts von einer Anzeige. Weder Kipp noch der Vorstand hat den Fall jemals genauer untersucht, sie haben nicht einmal das Mädchen befragt.  Ich habe mich an Claudio Matschke gewandt, der nicht nur im Vorstand des Kinderheims sitzt, sondern auch Präsident der Deutschen Wohltätigkeitsgesellschaft (DWG) ist, die die Finanzen des Kinderheims sowie eines deutschen Altersheims in Buenos Aires verwaltet. Ich habe ihm gesagt, dass man diesen langjährigen, zuverlässigen Mitarbeiter, der wahrscheinlich nichts falsch gemacht hat, nicht, mitsamt seiner ganzen Familie, in die bittere Armut abrutschen lassen könne. Seine Reaktion war Schulterzucken. Pablo habe freiwillig gekündigt, damit sei die Sache erledigt. Zahlreiche Anfragen und besorgte E-Mails von ehemaligen Freiwilligen des Kinderheims an ihn und andere Mitglieder des Heimvorstands, die eine Aufklärung des Falles forderten, zerschellten an derselben Wand der Gleichgültigkeit.

So verläuft die Sache wie jede Bemühung im Sande, Verbesserungen im Heim zu erreichen, und alles geht seinen gewohnten Gang. Die Spenden aus Deutschland fließen weiter. Die deutschen Firmen brüsten sich damit, den armen Kindern ein Dach über dem Kopf zu schenken. Pedro Kipp macht, was er will. Pablo, für seinen Teil, verkauft zurzeit als fliegender Händler Kugelschreiber am Bahnhof, um wenigstens ein paar Peso zu verdienen.

Terremoto



Das erste Wochenende nach dem fünftstärksten jemals gemessenen Erdbeben war in Santiago de Chile von Hilfsbereitschaft und Patriotismus geprägt. Die Hälfte der Menschen liefen mit Aufklebern auf der Kleidung durch die Hauptstadt, auf denen ein Herz und die Aufschrift „Chile ayuda a Chile (Chile hilft Chile)“ abgebildet waren und die an jeder Ecke gegen eine Spende für Notunterkünfte im Erdbebengebiet verteilt wurden. Auf der Plaza Italia fand ein Benefizkonzert statt, auf der Plaza de Armas Freilufttheater. Junge Menschen nahmen, ihren großzügigen Mitbürgern begeistert applaudierend, Sachspenden entgegen. Die rot-weiß-blaue chilenische Flagge mit dem Stern oben links war allgegenwärtig, die Menschen hatten in die Rückfenster ihrer Autos mit weißer Farbe Sprüche wie „Vamos Chile“ (Auf geht’s Chile) oder „Fuerza (Kraft) Chile“ geschrieben. Die Sonne schien. Die Leute flanierten durch die Innenstadt und aßen Eis. Sie wirkten erleichtert, sich nach einer harten Woche wieder den schönen Seiten des Lebens widmen und gleichzeitig etwas für ihr Gewissen tun zu können. Die Hilfsbereitschaft und Solidarität lösten positive Energie aus. Am Sonntag titelte ein Boulevardblatt „Endlich ein Grund zur Freude!“, ein anderes gar „Wir sind ganz groß!“ Die Spendenaktion des Vortags, zu der auch eine 24stündige Fernsehübertragung gehörte, hatte mit umgerechnet etwa 42 Millionen Euro das Doppelte des erklärten Ziels eingebracht. Für das Selbstwertgefühl der Chilenen war es dringend benötigter Balsam nach den Berichten von Plünderungen und Schießereien in der größten Stadt des Katastrophengebiets, Concepción.

Dort verbrachten viele Menschen den Sonntag damit, sich einen Eindruck zu verschaffen, was aus ihrer Stadt geworden war. Unter tief hängenden, dichten Wolken spazierten sie an mit Klebeband abgesperrten eingebrochenen Häusern vorbei und fahren mit ihren Fahrrädern unter herunterhängenden, wirr verflochtenen Stromleitungen hindurch, schwiegen betreten, fotografierten das ehemalige Luxuseinkaufszentrum oder das, was bis vor einer Woche das Haus des Nachbarn gewesen war. Am Abend entluden sich die Wolken. Die Bürgermeisterin von Concepción, Jacqueline van Rysselberghe, kritisierte in einem TV-Nachrichtensender mit nassen Haaren, die Regierung der Präsidentin Michelle Bachelet habe ihre Warnung vor Regenwetter ignoriert und es versäumt, rechtzeitig Notunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Zum Glück für die durch das Erdbeben obdachlos gewordenen Bürger von Concepción blieb es bei leichten Schauern, die nicht lange nach Beginn der Ausgangssperre um 21 Uhr wieder nachließen.

Um zehn Uhr dürfen die Menschen in Concepción wieder vor die Tür. Der Montag ist sonnig, die Atmosphäre geschäftig. Die Läden öffnen nach und nach wieder ihre Türen, auch die Banken haben geöffnet. Mit Gewehren bewaffnete Soldaten achten darauf, dass die Kunden einer nach dem anderen eintreten. Es bilden sich Menschenschlangen bis zur nächsten Ecke vor Banken, Apotheken und Supermärkten. Dina Cartas ist die zwanzigste in der Schlange vor der Filiale der Bank Corpbanca in der Hauptstraße O’Higgins. „Ich warte hier schon seit fast zwei Stunden darauf, zum ersten Mal seit dem Erdbeben Geld abheben und damit etwas kaufen zu können“, erzählt Cartas. Der Weg zur Bank hat allerdings noch viel länger gedauert. „Ich bin um halb acht morgens in meinem Heimatort Lota losgelaufen. In Coronel habe ich einen Bus bis San Pedro genommen, und von dort bin ich hierher gelaufen. Um zwölf war ich in Concepción“. Das Haus der Familie Carta hat keine größeren Schäden davongetragen. Eine andere Auswirkung der Naturkatastrophe macht sich allerdings bemerkbar. „Ich warte darauf, dass das Chaos vorbei ist, um meinen jüngsten Sohn zum Arzt zu bringen“, so die 43jährige Cartas. „Ihm ist schwindlig, er schläft nachts nicht. Es hat ihn psychologisch sehr hart getroffen“.

Ein ähnliches Problem hat Hortensia Bustos, deren Töchter nicht mehr das zweistöckige Holzhaus betreten wollen, in dem die Familie wohnte, bis es in den frühen Morgenstunden des 27. Februar so sehr wackelte, dass es Hortensia Bustos so vorkam, „als würde jemand das Haus hochheben und wieder fallen lassen“. Damals nahmen sie und ihr Mann die drei gemeinsamen Töchter und liefen aus Angst vor einem Tsunami in die nahe gelegenen niedrigen Berge, wo sie den Rest der Nacht verbrachten. Seitdem wohnt die Familie bei der Mutter von Hortensia Bustos. Die ist 80 Jahre alt und hat auch das Erdbeben von 1960 erlebt, das mit einem Wert von 9,5 auf der Richterskala das stärkste war, das je gemessen wurde. Das jüngste Erdbeben sei schlimmer gewesen, habe ihre Mutter erzählt, sagt Bustos. Diesmal habe der Tsunami die Küste vollkommen verwüstet. Die Gegend, in der die Familie Bustos lebt, genannt Población Aurora de Chile, ist von dem Tsunami verschont geblieben. Es liegt am Fluss Bío Bío, unweit der Mündung in den Pazifischen Ozean. Hier ist eine 70 Jahre alte Brücke zusammengestürzt. Die Bewohner des Viertels, in dem die Straßen unbepflastert sind, gehören der unteren Mittelschicht an. Sie haben größtenteils Arbeit, verdienen aber kaum genug, um über die Runden zu kommen. Nun fühlen sie sich von der Regierung und den Medien im Stich gelassen. Keiner ist gekommen, um sich nach ihrem Wohlbefinden und ihren Bedürfnissen zu erkundigen. Trinkwasser mussten sie sich selber beschaffen, indem sie ein sieben Meter tiefes Loch bohrten und einen Schlauch einführten, durch den sie das Wasser mit einer elektrischen Pumpe zu Tage fördern.

Jorge Figueroa ist derjenige im Viertel, den alle rufen, wenn etwas repariert werden muss. Nun kümmert er sich vor allem um Fernseher und andere Haushaltsgeräte, die im Erdbeben umgefallen sind. Er nimmt dafür kein Geld, versteht sich. In Zeiten, da über eine Woche lang keine Lebensmittel, Medikamente oder Hygieneprodukte zu bekommen sind, muss man innerhalb der Nachbarschaft zusammenhalten und sich gegenseitig helfen. In dieser Nachbarschaft haben allerdings auch viele sich selber geholfen und in den Geschäften bedient. Figueroa verteidigt sein Verhalten und das seiner Nachbarn: „Die Supermärkte sind damals geschlossen geblieben. Man wartete darauf, dass jemand von der Versicherungsfirma kommt und grünes Licht gibt, die Ware wegzuwerfen. Verteilen wollten sie sie nicht, weil das die Versicherung nicht bezahlt hätte. Also sind die Leute hingegangen, haben geplündert und sich versorgt“. Er beklagt, die Menschen aus dem Viertel seien stigmatisiert worden. „Wir werden als Plünderer bezeichnet, aber wir haben etwas absolut Notwendiges gemacht. Denn es kam überhaupt keine Hilfe. Die Behörden haben uns im Stich gelassen“. Es ist in diesen Tagen in Chile viel die Rede von der Unterscheidung zwischen denjenigen, die aus Not Lebensmittel gestohlen haben, und denjenigen, die auch teure Haushaltsgegenstände wie Waschmaschinen und Fernseher im allgemeinen Chaos haben mitgehen lassen. Jorge Figueroa legt wert darauf, nicht auf die falsche Seite dieses Dualismus zu gehören. „Dies ist keine Gemeinde von Dieben, sondern hier leben Menschen, die arbeiten, und die sich in einer kritischen Situation befanden. Da mussten Entscheidungen getroffen werden, auf die wir nicht stolz sind, aber das Überleben hatte Priorität. Ich kann einem Kind nicht sagen: ‚Ich kann dir nichts zu essen geben, denn der Mann von der Versicherung war noch nicht beim Supermarkt‘“. Er wehrt sich weiter: „Sie sagen jetzt, dass wir die Plünderer waren, erwähnen aber nie, dass Leute in Allradwagen, also Menschen mit Geld, kamen und den Leuten die Sachen abkauften, die sie aus dem Supermarkt geholt hatten“.

Viele Geschichten gehen trotz der medialen Aufmerksamkeit auf Concepción unter. So läuft eine kleine, etwa 40jährige Frau mit rötlichen, lockigen Haaren, die sich als Anita vorstellt, durch die Straßen der Stadt und erzählt jedem, der ihr zuhört, verzweifelt von der Situation in ihrem Dorf, das Valle la Piedra heißt, von etwa 50 Menschen bewohnt wird und in den Bergen liegt: „Wir brauchen Hilfe. Wir fühlen uns vom Bürgermeister total im Stich gelassen. Wir waren beim Lokalradio und überall sonst, um unser Leid zu klagen. Wir wissen nicht, was wir noch tun sollen“. Aus Angst vor Nachbeben könne sie nicht mehr ruhig in ihrem Haus schlafen. „Es wird der Tag kommen, da alles den Berg runter fällt und wir unter der Erde sind. Dann werden sie kommen und es sich ansehen. Wenn es zu spät ist“. Ihre Augen sind feucht und glasig, und in den Lücken zwischen ihren wenigen, winzigen schwarzen Zähnen bildet sich Schaum: „Das einzige, um das ich bitte, sind Lebensmittel: Milch, Reis, Zucker, Öl, was auch immer. Bitte, wir brauchen diese Lebensmittel für die Kinder. Wir brauchen auch Medikamente. Eines der Kinder hat 40 Grad Fieber. Es ist nichts bei uns angekommen. Bitte, legt die Hand aufs Herz, ich bitte euch weinend darum. Diese Situation ertragen wir nicht mehr. Ich bitte einfach nur die Leute, die mir zuhören und die mich angucken, dass sie Lebensmittel für meine Leute in Valle la Piedra bringen, denn wir brauchen sie dringend. Guckt mich nicht so unverbindlich an“, schreit sie plötzlich die verdutzten Passanten an. „Ich setze mich hier für meine Leute ein, damit wir Hilfe bekommen. Wir haben nichts mehr, nichts für unsere Kinder. Bitte!“

Während Dina Cartas noch darauf wartet, beim Bankautomaten an die Reihe zu kommen,  Hortensia Bustos ihre Tochter fest an sich drückt und Angst um ihren Mann hat, der auf dem Bau arbeitet, Jorge Figueroa einen alten Fernseher repariert und Anita blind vor Verzweiflung durch die Stadt läuft, findet vor der einsturzgefährdeten Kathedrale von Concepción eine Messe statt. In seiner Predigt bittet der Priester durch ein Megafon „den Heiligen Geist darum, dass wir uns in dieser so betrüblichen Stunde wie Gottes Kinder und Brüder behandeln“. Sollte der Heilige Geist die Bitte nicht erhören, sorgt das Militär dafür, dass sich die Leute nicht die Köpfe einschlagen. Die Gegenwart von Soldaten ist in Concepción weit weniger kontrovers, als sie in der Hauptstadt diskutiert wird. Dina Cartas ist nicht die einzige, die sich nicht an die Militärdiktatur erinnert fühlt; sie findet es „supergut, dass die Soldaten gekommen sind. Die hätten sie von Anfang an schicken sollen“. Die größere Gefahr sieht sie, wie so viele in dieser erschütterten Stadt, in ihren Mitbürgern: „Zusätzlich zum eigentlichen Erdbeben mussten wir ja auch ein immenses soziales Erdbeben erdulden, mit den Plünderungen und so. Ich glaube, das hat uns sogar noch härter getroffen“.